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Atomenergie spaltet wie kaum ein anderes Thema. Immer wieder flammt die Debatte um den Nutzen und „Unnutzen“ der nuklearen Energie auf, so auch aktuell. Diese Debatte wird dabei durch Nachrichten von unseren Nachbarn weiter angeheizt. Sowohl die Niederlande als auch Frankreich haben sich kürzlich dazu entschieden, neue Atomreaktoren zu bauen, um damit die Energiewende zu schaffen und den CO2-Austoß zu verringern. Gleichzeitig erklärt die EU-Kommission Atomstrom als nachhaltig und gibt damit den Befürwortern neue Munition. Doch was ist dran an der Aussage, dass Atomenergie nachhaltig ist und sollten wir in Deutschland unsere Position überdenken? Dieser Frage werden wir in unserem Beitrag nachgehen.
Reichen Sonne und Wind als Energiequellen aus?
Vor allem der stark steigende Energiebedarf unserer Gesellschaft wirft bei vielen Analysten die Frage auf, ob wir zum Beispiel die E-Mobilität nur mit Wind und Sonne erreichen können. Ferdinand Dudenhöffer meinte in einem Interview, das er die Rückkehr zur Atomenergie als unausweichlich sieht: „Wenn wir nicht auf Atomstrom gehen, laufen wir in 10 bis 20 Jahren in einen extremen Engpass der Stromversorgung, weil wir 50 Millionen E-Autos auf unseren Straßen haben. […] Der Stromausbau mit erneuerbaren Energien kann nicht dahin kommen, wo wir ihn brauchen. […] Wir bräuchten mindestens 60.00 Windkraftanlagen, was nicht geht.“
Das klingt auf den ersten Blick ernüchternd, allerdings stimmt das nicht ganz, so wie es Dudenhöffer darstellt. Mit dem aktuellen Stand der Wind- und Solartechnik würde schon ein Bruchteil der Erdoberfläche reichen um den Energiebedarf der gesamten Erde mehrere Male zu decken. Laut dem Thinktank „Carbon Tracker“ würden laut einer Studie 0,3 Prozent der Erdoberfläche reichen. Natürlich muss mann aber auch bedenken, dass selbst diese Ressourcen ungleich verteilt sind. So ist die Ausbeute an Sonnenenergie in Mitteleuropa wesentlich geringer als in anderen Teilen der Welt.
Was sich allerdings nicht verleugnen lässt, ist, dass der Stromverbrauch in Deutschland seit Beginn der 90er-Jahre stetig gestiegen ist. Dabei wird der meiste Strom von der Industrie verbraucht, darauf folgen der Gewerbe-, Handels- und Dienstleistungssektor, danach die privaten Haushalte und am Ende der Verkehrssektor. Das wird sich aber in der nahen Zukunft ändern. So hat das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI berechnet, dass im Jahr 2030 durch die E-Mobilität ein zusätzlicher Strombedarf von 44 Terawattstunden entstehen wird.
Eine moderne Windkraftanlage hat in der Regel eine Leistung von vier Megawatt. Das wirkt zwar gering, allerdings hat sich die neue Bundesregierung darauf geeinigt, dass bis 2030 mehr als 30 Gigawatt allein in Offshore-Windparks entstehen sollen. Das würde bei einer Laufzeit von 3.000 Stunden pro Jahr, das ist eine konservative Schätzung, einer zusätzlichen Stromversorgung von 65 Terawattstunden entsprechen. Damit wäre der Energiebedarf des Verkehrssektors mehr als gedeckt.
Trotzdem stellt uns der Energiewandel immer noch vor erhebliche Herausforderungen. Laut dem Fraunhofer Institut ist dieser Wandel aber grundsätzlich möglich. Ob dieser allerdings gelingt, hängt vor allem vom politischen Willen und dem Verhalten der Industrie ab. Die Zieljahre für den 100 % Wandel in Deutschland gehen dabei von den Zieljahren 2035 bis 2050 aus.
Ist Atomenergie CO2-neutral?
Ferdinand Dudenhöffer behauptete im Interview mit MDR AKTUELL Radio, dass erneuerbare Energien den wachsenden Energiebedarf nicht decken können und Atomkraft die einzige klimafreundliche Alternative zur fossilen Stromerzeugung ist: „Die Grundfrage lautet: Wir wollen null CO2 erreichen, wir wollen den Klimawandel loswerden, wir wollen ihn bekämpfen.“
Atomkraft ist aber leider nicht 100 % CO2-neutral. Allerdings entstehen die Treibhausgasemissionen hauptsächlich vor und nach der eigentlichen Stromerzeugung. Betrachtet man den gesamten Prozess, nicht nur die relativ kurze Verbrennungszeit, so stammen die CO2-Emissionen aus dem Uranabbau, der Brennelementherstellung, dem Kraftwerksaus- und -abbau und schließlich der Lagerung einer unkalkulierbaren Menge an radioaktivem Abfall. Das Hauptproblem ist dabei, dass dieser Abfall für mindestens eine Million Jahre lagern muss.
Einem IPCC-Bericht von 2014 zufolge liegen die Emissionen über den gesamten Lebenszyklus eines Kernkraftwerks bei 3,7 bis 110 Gramm CO2 pro Kilowattstunde, der Median (50 % der Werte liegen darüber, 50 % darunter) liegt bei 12 Gramm CO2. Damit produziert ein Kernkraftwerk in etwa die gleiche Menge an Treibhausgasen wie Windenergie auf dem Land oder eine Windturbine auf See. Allerdings fließt die Endlagerung des Atommülls nicht in diese Rechnung mit ein.
Setzt der Rest der Welt auf Atomenergie?
Bis vor Kurzem wurde in der EU noch hitzig darüber diskutiert ob Gas und Atomenergie als nachhaltige Investition gelten sollten, mit dem Ergebnis, dass sowohl Gas als auch Atomenergie als nachhaltig eingestuft wurden. Vor allem Deutschland, Luxemburg, Portugal, Dänemark und Österreich haben sich gegen eine solche Einstufung ausgesprochen. Die Mehrheit der EU-Staaten war allerdings für diese Einstufung. Ferdinand Dudenhöffer sagte im Radio MDR AKTUELL: „Die ganze Welt geht dahin: Atomkraft.“ Übrigens ist es in Belgien genauso: „Sie haben sich auch von der Atomkraft verabschiedet und bauen jetzt wieder kleine Kraftwerke.“
Weltweit wird in 30 von 195 Ländern Kernenergie genutzt, wobei fast die Hälfte der Reaktoren in nur drei Ländern in Betrieb sind: den Vereinigten Staaten (94), Frankreich (56) und Japan (33). Deutschland belegt mit sechs Reaktoren den 14. Platz, und viele Länder, die mit Deutschland vergleichbar sind, betreiben ebenfalls keine Kernkraftwerke oder haben alle ihre Reaktoren abgeschaltet. Darunter Österreich, Dänemark, Italien, Griechenland, Portugal und Irland. Weltweit planen oder bauen allerdings immer mehr Länder neue Kernkraftwerke bzw. planen den Bau.
Allerdings hat kein Land einen größeren Atomstromanteil im Strommix als Frankreich. In Frankreich hat sich aber die Fertigstellung von Framanville, dem einzigen derzeit im Bau befindlichen neuen Kernkraftwerk, verzögert. 3,3 Milliarden Euro kostete das Kraftwerk für Europas neuen Druckwasserreaktor EPR, der ursprünglich 2012 fertiggestellt werden sollte. Die Baukosten belaufen sich derzeit auf 19,1 Milliarden Euro, ein Ende ist nicht in Sicht. Nach etlichen Verzögerungen ist die Inbetriebnahme nun für das Jahr 2022 vorgesehen, zehn Jahre nach dem ursprünglich festgelegten Fertigstellungstermin und 15 Jahre nach dem Baubeginn.
Können kleine Kernreaktoren Kernschmelzen vorbeugen?
Seit den 1950er-Jahren wird an kleinen modularen Reaktoren (SMRs) geforscht. Die Idee ist, die enorme Bauzeit und das notwendige Investitionskapital großer Kernkraftwerke zu reduzieren, was bisher nicht möglich war. SMR seien zudem sicherer im Vergleich zu konventionellen Kernkraftwerken, sagte Ferdinand Dudenhöffer im Gespräch mit MDR AKTUELL. Bei kleineren Kraftwerken (SMRs) würden so Sachen wie Kernschmelzen nie wieder passieren.
Kernschmelzen sind nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch unmöglich. Die Frage ist, wie würden wir über Kernenergie sprechen, wenn es weder Tschernobyl noch Fukushima geben würde? Die Art und Weise, wie wir über Kernenergie sprechen, wird sehr unterschiedlich sein. Es gibt verschiedene Konzepte von SMR. Diese reichen von „heutigen“ Leichtwasserreaktoren mit geringer Leistung bis zu anderen Arten von Konzepten, mit wenig oder keiner vorherigen industriellen Erfahrung (wie Hochtemperatur- oder Salzschmelze-Reaktorkonzepte).
Das Bundesamt für nukleare Entsorgungssicherheit (BASE) hat 2021 einen umfassenden Bericht vorgelegt, der 136 verschiedene historische und aktuelle Reaktor- oder SMR-Konzepte berücksichtigt, von denen 31 besonders detailliert waren. Tausende bis Zehntausende von SMR-Systemen müssen gebaut werden, um die gleiche Leistung wie herkömmliche Kernkraftwerke weltweit zu erzeugen. Im Vergleich zu Kernkraftwerken mit hoher Leistung können einzelne SMR aufgrund ihrer geringeren radioaktiven Bestände pro Reaktor Sicherheitsvorteile erzielen. Die große Anzahl an Reaktoren, die zur Erzeugung der gleichen Strommenge benötigt werden, erhöht das Gesamtrisiko jedoch um ein Vielfaches.
Außerdem muss davon ausgegangen werden, dass im Falle eines schweren Unfalls die radioaktive Kontamination weit über das Anlagengelände hinausreicht. Aufgrund der geringen Ausgangsleistung sind die Baukosten von SMRs um einiges höher als die von großen Kernkraftwerken. Modellrechnungen zeigen, dass sich die SMR-Produktion erst lohnen kann, wenn man 3.000 oder mehr Reaktoren produziert. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die Reaktoren in den nächsten zehn Jahren einen kritischen Beitrag zum Klimaschutz leisten.
Liegt unsere Zukunft im Atom?
Dieser Meinung ist zumindest Ferdinand Dudenhöffer. In einem Interview, welches sich mit der Forschung zur Kernfusion beschäftigt, meinte Dudenhöffer: „Die Zukunft liegt im Atom. In Frankreich arbeitet man am Plasmareaktor. Da ist die EU dabei mit 20 Milliarden. Das ist das erste Mal, dass man mit unendlich wenig Material Kernfusionen erzeugen kann, und da kriegen wir gewaltige Energiemengen. Wenn wir das schaffen könnten, wären wir in einer völlig neuen Welt der Energieversorgung.“
Ziel der Fusionsforschung ist die Energiegewinnung aus der Verschmelzung von Atomkernen in Kraftwerken. Der ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) wird als gemeinsames Forschungsprojekt der Europäischen Union (einschließlich Großbritannien und der Schweiz), der Vereinigten Staaten, Chinas, Südkoreas, Japans, Russlands und Indiens entwickelt, gebaut und betrieben. Das Forschungszentrum befindet sich seit 2007 im südfranzösischen Cadarache. Anfang 2021 hat die EU weitere 5,61 Milliarden Euro als Forschungsbudget bis 2027 bewilligt. Mit 20 Milliarden Dollar bezieht sich Dudenhöffer offenbar auf die bisher bekannten Gesamtkosten, die sich gegenüber der ursprünglichen Planung verdreifacht haben.
Der ITER selbst wird frühestens 2025 in den Probebetrieb gehen. Fusionsreaktoren liefern jedoch keine Energie an das Netz. Es ist ein reiner Forschungsreaktor, der das Prinzip bestätigen und praxistauglich machen soll. Experten gehen davon aus, dass die Kernfusion frühestens 2050 effizient Strom erzeugen kann. Die Fusion produziert auch radioaktiven Abfall, die Halbwertzeiten sind dabei jedoch um einiges kürzer als bei der herkömmlichen Kernspaltung.
Ob unsere Zukunft wirklich im Atom liegt kann man schwer sagen. Allerdings lässt sich nicht verleugnen, dass zumindest kurzfristig die Atomenergie mit seiner geringen CO2-Bilanz hilfreich sein könnte. Es würde uns die Möglichkeit geben, Kohlekraftwerke vom Netz zu nehmen, ohne dass es zu weiten Stromausfällen kommt. Atomenergie könnte also zumindest als Übergangslösung betrachtet werden.
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